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Grammatik für alle

Mit einer einheitlichen elektronischen Lösung für Bestellwesen und Auftragsabwicklung könnten Unternehmen weltweit pro Jahr so viel Geld sparen, wie die Finanzkrise an Schaden angerichtet hat.

Es gab eine Zeit, da wollten wir unsere Endkunden gar nicht kennen. Zumindest die meisten nicht. Westaflex stellt flexible Rohre her, die in den verschiedensten Branchen vom Klimaanlagenbau bis zur Automobilindustrie eingesetzt werden. Die Kunden in der Automobilindustrie kennen wir natürlich: wenig an der Zahl, aber mit sehr hohen Umsätzen. Aber ein Drittel unseres Umsatzes entfällt auf den Bereich Sanitär, Heizung, Klima (SHK) – das sind Handwerker, viele Handwerker, von denen jeder immer nur das bestellt, was er für den aktuellen Auftrag gerade braucht. Und wenn jedes Mal, wenn ein Handwerker 20 Meter Rohr braucht, bei uns ein Bestell- und Liefervorgang ausgelöst wird, fressen die Bearbeitungskosten uns die Gewinnmarge weg. Deshalb waren wir früher froh, dass die Handwerker ihre Rohre beim Grosshandel bestellt haben – und der dann in grösserer Menge bei uns.

In den letzten Jahren hat sich diese Situation für uns rasant geändert. Zum einen, weil auch der Großhandel heute weit geringere Mengen pro Bestellung abnimmt als früher. Von der Bezeichnung „lagerführender Großhandel“ kann man eigentlich das Lager streichen; es sind nur noch diejenigen Artikel am Lager vorrätig, die absolute Renner sind. Der Grössenvorteil des Grosshandels ist dadurch wesentlich geringer geworden, und auch hier stellt sich verstärkt die Frage der Bearbeitungskosten für den einzelnen Auftrag: Wer 200 Kilometer Rohr auf einmal bestellt, darf das gerne per Fax auf Chinesisch machen – bei 200 Metern wäre es sehr ratsam, wenn er sich der kostengünstigsten Technik bedient.

Denn, zum zweiten, die Möglichkeiten, die die elektronische Auftragsabwicklung bietet, können auch wesentlich kleinere Bestellmengen als früher lukrativ machen. Und zwar nicht nur für uns, sondern auch für den Kunden, denn natürlich werden eingesparte Transaktionskosten an den Kunden weitergereicht oder in zusätzlichen Kundenservice investiert.

Solche Einsparungen und Erleichterungen können in beide Richtungen der Lieferkette funktionieren. Die elektronische Verknüpfung der EDV-Systeme bezieht die Vorgänger und die Nachfolger in der Kette ein. Wir erfahren, welcher Bedarf im Handel besteht, und unsere Lieferanten erfahren, welcher Bedarf bei uns besteht. Bestellungen werden dann keine Bringschuld von uns mehr, sondern eine Holschuld der Lieferanten. Das könnte etwa so funktionieren: Sobald in unserem Lager ein von uns vorgegebener Schwellenwert für Aluminiumdraht unterschritten wird, wird das allen potenziellen Lieferanten von Aluminiumdraht signalisiert, inklusive allen Produkt-Spezifikationen, sowie Bandbreiten für Liefermenge und Lieferzeitpunkt. Mit diesen Informationen haben alle Wettbewerber alle notwendigen Informationen, um uns ein Angebot zu machen, und wir wählen das beste aus.
Natürlich muss es heissen: Wir würden das beste auswählen. Denn die kleinen und mittleren Unternehmen, zu den auch Westaflex gehört, plagen sich eher mit den Nachteilen der modernen Technik ab. Wir sind immerhin in der glücklichen Lage, keine Endkunden zu haben, so dass wir sagen können: Bestellungen per E-Mail akzeptieren wir nicht – denn damit landet man eigentlich vom Bearbeitungsablauf wieder in der
EDV-Steinzeit. Alle Daten müssen manuell ins unternehmenseigene System übertragen werden, der eine Kunde hängt eine Word-Datei an, der andere Excel oder PDF, das muss man dann wieder alles ausdrucken und abheften. Die Prozesskette vom Bauxit- Abbau über die Aluminiumhütte, die Drahtproduktion, die Rohrfertigung bis zum Einbau des fertigen Lüftungsrohrs ist wie ein langes Seil, an dem alle hängen. Mit einem Fax oder einer E-Mail schneide ich das durch und muss es anschließend wieder neu verknoten.

In der Welt der Grosskonzerne gibt es seit vielen Jahren ausgefeilte Bestell- und Abwicklungssysteme. Bei Benetton etwa werden die Pullover nur in einer Farbe gelagert, nämlich weiß. Und wenn die Scannerkassen Bedarf an bestimmten Färbungen meldet, werden die Pullover über Nacht in entsprechender Stückzahl gefärbt und geliefert. Auch im Lebensmitteleinzelhandel gibt es sehr ausgefeilte Systeme, die automatisch signalisieren, welche Artikel wann in welchem Umfang wieder aufgefüllt werden müssen.

Für solche automatisierten Vorgänge braucht man standardisierte Kommunikation. Auch unsere Grosskunden, etwa aus der Automobilindustrie, kennen und haben das längst: Wenn Sie nicht ISO-zertifiziert sind, oder nicht am internen Datenaustausch teilnehmen wollen, kommen Sie gar nicht erst rein. Allerdings hatte lange Zeit jeder sein eigenes, handgestricktes System – bei VW ging das sogar so weit, dass es unterschiedliche Normen für jedes einzelne Werk gab. Da Unternehmen wie Westaflex eine Vielzahl von Konzernen aus ganz unterschiedlichen Branchen beliefern, entstand dadurch bei uns ein hoher Aufwand, um allen diesen Standards gerecht zu werden. Inzwischen geht der Trend dahin, die Grund-Kommunikation auf das kleinste gemeinsame Vielfache zu reduzieren. Das sind bei jedem Bestellvorgang drei Informationen: Artikelnummer, Stückzahl und Liefertermin. Es wäre eine enorme Erleichterung, wenn alle Bestellungen in dieser Art mit einem gemeinsamen Standard bearbeitet werden könnten. Alle über das kleinste gemeinsame Vielfache hinaus gehenden Informationen können dann auf anderen Wegen ausgetauscht werden. Rechnungsdaten zum Beispiel gehören nicht mehr zum kleinsten gemeinsamen Vielfachen: VW beispielsweise will gar keine Rechnung von uns. Wenn eine Lieferung von der Qualität her in Ordnung ist, bekommen wir eine Gutschrift, fertig. So weit sind wir mit dem Handel noch nicht – hier müssen auch Rechnungsdaten ausgetauscht werden.

In einer Konzentration auf das kleinste gemeinsame Vielfache liegt auch die Chance für die ganz grossen Einsparpotenziale – die sich nämlich erst ergäbe, wenn die elektronische Auftragsabwicklung für alle Betriebe einsetzbar wäre. Besser gesagt: von allen Betrieben eingesetzt würde. Einsetzbar ist sie nämlich schon. Denn diesen gemeinsamen Standard gibt es schon. Er heisst EDI, Electronic Data Interchange, und ist in den Achtziger Jahren von der Welthandelsorganisation entwickelt worden. EDI ist eine Vereinbarung für die elektronische Übermittlung von Geschäftsvorgängen, bei der formalisierte Daten zwischen Geschäftspartnern ausgetauscht werden. Formalisierte Daten sind Daten, bei denen genau festgelegt ist, in welcher Reihenfolge und welchem Format bestimmte Informationen erscheinen. Als EDI-Nachricht kann demnach prinzipiell alles versandt werden, was Formularcharakter aufweist also beispielsweise Rechnungen, Bestellungen, Angebote, Lieferabrufe oder Speditionsaufträge.

EDI ist keine Nachricht, sondern eine Nachrichten-Grammatik. EDI-Anwendungen gibt es im Prinzip in jeder Branche. Wenn Banken heute grenzüberschreitend mit SWIFT kommunizieren, steckt EDI dahinter. Vieles, was heute fast wie von Geisterhand geht, ist nicht Excel, sondern strukturierte Nachricht, nämlich EDI. Die Sprache ist in jeder Branche eine andere, für die Automobilindustrie anders als für den Aktienhandel oder die Sanitärbranche. Aber die zugrunde liegende Grammatik, das kleinste gemeinsame Vielfache, ist immer die gleiche. Man kann sich das vorstellen wie beim Bargeld- Abheben. Früher war diese Transaktion nur am Schalter derjenigen Bank möglich, bei der man sein Konto hatte – da war es schon gut, wenn man unterwegs ein Postsparbuch dabei hatte weil dieses Sparbuch mit den Postsparkassen anderer Länder kompatibel war. Heute gehen Sie an jeden beliebigen Geldautomaten jeder beliebigen Bank. Übrige Bankgeschäfte, etwa überweisungen oder Aktienverkäufe, können sie weiterhin nur an den Automaten, der Webseite oder den Schaltern Ihrer Bank vornehmen, aber für den Bargeldverkehr, für das kleinstes gemeinsame Vielfache, haben sich die Banken auf eine gemeinsame Sprache geeinigt.

Die unterschiedlichen Sprachen für unterschiedliche Branchen sind bislang ein Problem für die allgemeine Verbreitung des EDI-Standards. Insbesondere für Zulieferer, die ja oft die Sprachen verschiedener Branchen verstehen und anwenden müssen. Der Lösung dieses Problems hatte sich ein Forschungsprojekt der Technischen Hochschule Aachen verschrieben, sozusagen als eine Standardisierung des Standards. Die Ergebnisse waren so überzeugend, dass sich Ende 2006, vor Auslaufen des Projekts, die Genossenschaft Myopenfactory gründete, um die Umsetzung in den Unternehmen voranzutreiben.

MyOpenFactory ist einfach, einfacher geht es nicht. Niemand muss dafür eine neue EDV oder ein neues System einführen. Man sollte lediglich Einigkeit bei den Artikel- Stammdaten erzielen, damit ein und dieselbe Artikel-Nummer auch immer den gleichen Artikel meint. Wenn das gewährleistet ist, braucht man dafür nicht einmal EDV-Experte zu sein: Browser an, einloggen, fertig.

Deshalb ist dieses System natürlich denkbar ungeeignet, um von einem Unternehmen propagiert und im Markt durchgesetzt zu werden: Man kann nämlich kaum Geld damit verdienen. Keine teure Software, die installiert werden muss, keine teuren Wartungsverträge, keine kostenpflichtigen Updates. Für die potenziellen Kunden eigentlich hervorragende Argumente, aber wenn kein Geld damit verdient wird, rührt auch kein Aussendienstler die Werbetrommel. Deshalb sind die Gründer auch auf die Unternehmensform der Genossenschaft verfallen. Die meisten Genossenschaftsmitglieder sind Softwarehäuser, die sich im Markt durchaus an anderer Stelle als Wettbewerber gegenüberstehen, aber hier ein gemeinsames Interesse an der Einführung des myOpenFactory-Systems haben – um schon bestehende Kunden zu pflegen oder neue Kunden für die Dienstleistungen des Hauses zu akquirieren.

Im laufenden Betrieb ist myOpenFactory günstig, günstiger geht’s nicht. Die bislang üblichen Datenverbindungen zwischen Herstellern und Großkunden schlagen mit Belastungen von einigen tausend Euro pro Monat zu Buche. Jedes Einwählen ins System wird extra berechnet und obendrauf kommen Kosten je nach Volumen des Datenverkehrs. Bei myOpenFactory werden die Datensätze über das Internet verschickt, verschlüsselt und praktisch kostenlos. Das Volumen der einzelnen Bestellung spielt genauso wenig eine Rolle wie das Datenvolumen, auch die Frequenz des Abrufs nicht mehr – wer nichts anderes zu tun hat, kann jede Minute ohne Mehrkosten nachschauen, ob eine neue Bestellung angekommen ist.

Besonders attraktiv werden solche System für alle, die besonders hohen Verkehr mit dem Ausland haben. So wie beim Handy-Roaming fallen auch bei der Kommunikation zwischen Kunde und Lieferant im grenzüberschreitenden Verkehr wesentlich höhere Kosten an. Mit EDI kommt also das Versprechen, das das Internet den Unternehmen gegeben hat, tatsächlich auch in der Kostenrechnung der Unternehmen an. Und zwar gesichert und standardisiert. Wenn Kommunikationskosten bei der Auftragsabwicklung keine Rolle mehr spielen, und die Unternehmen auch keine Spezialisten mehr für die Wartung des Systems vorhalten müssen, lassen sich enorme Einsparungen erzielen – an Geld und an Zeit. Nach meiner Schätzung könnte man bei einer völligen Umstellung aller Bestellsysteme auf EDI etwa 240 Milliarden Euro einsparen. Pro Jahr. Nur in Deutschland. Und wenn ich das auf die ganze Welt hochrechne, lande ich in jedem Fall im Billionen-Bereich. In etwa der Betrag, den die Finanzkrise gerade weltweit an Schaden verursacht, könnte also im Bestellwesen jährlich eingespart werden.

Oder anders investiert. Denn wenn ein Handwerker seine Rohre direkt bei uns bestellen will, kann das sogar Spass machen, wenn er über myOpenFactory bestellt. Dann sparen wir vielleicht weniger oder gar kein Geld – aber dafür lernen wir am Ende doch noch alle unsere Endkunden direkt kennen.

 

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